Heute wie jeden Tag (2000)

Heute wie jeden Tag

„White City“, informiert die Stimme des elektronischen Service. Die Frau mit den langen, weiß schimmernden Beinen mustert mich verstohlen. Ich kenne sie von zuvor, aus unseren Rollenspielen, und es ist jetzt anders. Ich kenne sie nicht mehr.
Eine staatlich genormte Version von ihr war den Leicester Square entlang gestöckelt, ovale Sonnenbrille mit grünen Gläsern, eine Einkaufstasche von „Tiffany’s“ in der Hand. Sie hatte die Füße wie ein Model immer auf eine Linie gesetzt, während sie sich in einem Schaufenster betrachtete: ausladende Hüften, hübsches Gesicht. Es war alles in Ordnung mit ihr. Thomas hatte sie zuerst gesehen, das zumindest sagte er, und drei Sekunden später fragte er die Dame, ob sie nicht Lust auf eine kleine Party hätte. Wir hatten die Gitarren kurz aus der Hand gelegt und nuckelten an immer wärmer werdenden „Fosters“. „Was für eine Art Party ?“ Mit ihrer blasierten Cockney-Stimme. „Sag’s ihr, Charlie.“ Er grinst mich an, ich schaue verlegen auf ihre hochhackigen Schuhe. „Warum starrt ihr mich an wie ein Stück Fleisch?“ Kurzes Schweigen. „Weil…du’s bist, Honey. “ Thomas fixiert die Stelle, wo sich ihre Brüste unter dem Kleid abzeichnen, verschlingt sie Zentimeter für Zentimeter mit seinen Augen. Dann das Klacken ihrer Absätze, synkopisch begleitet von unserem Gelächter.
Es ist schwer, einer Frau mit Sonnenbrille das wahre Alter anzusehen. Eigentlich sieht sie jetzt, 8 Stunden später, ganz schön alt aus: deprimiert, gewöhnlich. Man trifft solche Frauen ziemlich oft in London. Sie sind Mittelklasse, Mitte 20 bis Mitte 30, ihre Männer arbeiten bei Versicherungen oder Banken, draußen im federal district. Vielleicht sind sie nicht ausgelastet, ich weiß nicht. Sie geben zumindest selten Geld für was anderes aus als Kleider. Und das ist auch in Ordnung so. Denn was bliebe alles in allem übrig von den Vorurteilen, an denen man sich orientiert? Es ist keine Kleinigkeit, sich hier zurechtzufinden und gäbe es nicht das Freund – Feind – Schema, man käme sich ziemlich verloren vor. Anders gefragt: Würden Sie einer Frau, die sich so plump anmachen läßt, Intelligenz zutrauen? Nun, manchmal ist dies der Fall- ein traumatisches Erlebnis für einen Straßenmusiker und so ziemlich das einzige, worüber man nicht den ganzen lieben Tag redet.
Von streng soziologischer Warte gesehen könnte man die Straßenmusiker, oder busker, welches der spezifisch englische Begriff ist, unter „soziale Schmarotzer“ einordnen. Das wäre einfach: Wo Touristen sind, gibt es Dealer, Zuhälter, Bettler, Straßenmusiker. Aus der Sicht eines Straßenmusikers allerdings ist die Solidarität bei weitem nicht so ausgeprägt. Rangeleien mit den Benachteiligten des kapitalistischen Systems sind keine Seltenheit: Sie beanspruchen die selben Plätze. In einer Gesellschaft, die von Leuten repräsentiert wird, die Kleingeld immer mit sich führen, um unbeschadet durch die Einkaufsstraßen zu gelangen, können die Busker einige evolutive Anpassungsleistungen geltend machen. Erstens: Sie haben keine räudigen Köter an ihrer Seite. Zweitens: Sie können bisweilen einfach verschwinden, an die Küste, in die Provinz, an Orte, wo sie sich genauso unauffällig in die Mittelklasse einfügen, wie sie sich hier in London von ihr abgrenzen. Drittens: Durch ihre Profession dem normalen Gesichtskreis von Messen, Zählen, Wiegen enthoben, verfügen sie über ein überdurchschnittlich angenehmes Wesen. Selbst in der Gruppe der sozialen Schmarotzer zahlt sich das aus.
Der Bevölkerungsanteil der Unterschicht beträgt hier in London 20 Prozent- viel Kriminalitätspotential. Man kommt an einer gelegentlichen Razzia zur Befriedigung des allgemeinen Sicherheitsbedürfnisses nicht vorbei, gleichwohl England ein feines hidden law zur Entlastung jeglicher sozialer Spannung eingeführt hat: Es ist demnach schlichtweg verboten, keinerlei Geld zu besitzen. Der englische Staat sorgt dafür, daß selbst den Leistungsverweigerern (und Vollinvaliden) fünf Pfund pro Tag zustehen, die sie sich, haben sie wenigstens irgend einen Namen, beim zuständigen Amt abholen können. Es ist fast so, als hätte man Angst, es würde in dieser Stadt jemand ohne Geld überleben.
Thomas und ich, die wir als „The Sandwich-Boys“ die Touristenmeile zwischen Covent Garden und Piccadilly Circus beschallen, machen in etwa 35 Pfund den Tag. Das reicht für ein absolut durchschnittliches Leben, wenn man die richtigen Orte kennt. Damit das klar ist, ich rede hier nicht von „irgendwie über die Runden kommen“, sondern vom Rundherum- Service einer Weltstadt, das meint inklusive Kleenex, Pub und Philosophieren. Da Sommer ist (der heißeste seit 12 Jahren übrigens) spielt Ernährung nur eine untergeordnete Rolle. Man kann sie mit einer anspruchsvollen Tagesplanung sogar ganz vergessen machen. So spielen Thomas und ich in etwa 5 U-Bahnen pro Stunde. Wenn man keine Routine darin hat, ist das eigentlich unmöglich. Wir schaffen es mittlerweile nebenbei, während unsere Gedanken um ein Stück Pizza kreisen, um die fahrende Uhr, die unser Zuhause geworden ist- während die Gedanken um uns selbst kreisen. Gerade darin werden wir immer besser: bessere Musiker, bessere Schnorrer, bessere Unterschicht. Wir sind geradezu sensationell, wenn man bedenkt, daß wir Abschaum sind. Man vergißt es fast, doch zum Glück gibt es genügend Leute, die einen daran erinnern. Im Moment kann ich nicht mehr singen, ohne an einen der Tritte zu denken, die man sich nebenbei so einfängt. Es ist auch ganz verständlich, daß nicht jeder zwischen 9 und 5 einen Draht zur Musik hat, oder vielmehr zum Musikgeschäft.
Das soll nicht heißen, daß man damit nicht reich werden kann. Manche von den Typen, die mit den Verstärkern und Lizenzen, spielen seit Jahrzehnten dasselbe und haben dabei gelinde gesagt „etwas“ auf die Seite geschafft. Dieses „Etwas“ beläuft sich mitunter auf einige Hunderttausend –Pfund!- wohlgemerkt. Und sie denken nicht mal daran, Platten aufzunehmen. Viel zu riskant, viel zu langweilig…und außerdem macht das jeder picklige Teenie, der eine Gitarre in der Hand halten kann… Make show, heißt es deshalb jeden Abend, welchen Song wollt ihr hören ? Oh, nun DEN gerade nicht…aber ich habe einen anderen, der klingt genauso. Die sind halt für die Touristen da und genug. Irish Boy Frankie, William Lang, Crazy Joe, genau in dieser Reihenfolge. Namen wie Wildwest- Reiseprospekten entsprungen.
Einer dieser Polaroid-Könige, so ein Stevie- Wonder –Verschnitt (ob er tatsächlich blind ist, spielt keine Rolle), hat sich näher am Leicester Square in unserem Durchgang aufgestellt. Die Türsteher der Clubs hier hassen ihn, Thomas und ich hassen ihn, sogar die Bettler und ihre Hunde tun das, aber die hassen auch uns. Im Prinzip haßt jeder jeden. Aber dieser Mistkerl da vorne an der Ecke hat eine Erlaubnis der Stadtverwaltung, exakt an dieser Stelle des Leicester Square die Saiten quälen zu dürfen. Er ist berechtigt, das Band immer und immer wieder laufen zu lassen. Dabei verzieht er sein Gesicht, als müßte er in einer Kloake waten. Eine Art apokalyptische Endlosschleife.
Jeden Tag, wenn mein schwedischer Partner Thomas und ich uns also in dieser Seitengasse des Leicester Square treffen, erinnert er mich zunächst daran, diesem fetten, schwarzen Schnulzengitarristen demnächst eine Abreibung zu verpassen: „herausfinden, wie blind er ist“, heißt das in unserem Privatjargon. Dann fragt Thomas, ob meine Stimme in Ordnung wäre. Wir müßten nämlich etwas Geld machen heute. Er nimmt sein Basecap ab, die Haare vollkommen verklebt vom beschissen heißen Wetter, über das er jetzt schimpft, fängt an, seine Gitarre zu stimmen, schickt mich Bier holen. Und ich schlürfe daraufhin die lange, fensterlose Gasse entlang, bleibe kurz stehen an den Kino – Vitrinen, um zu schauen, ob’s was Neues gibt und denke nach, ob’s nicht besser wäre, ans Meer zu ziehen. Ja, ich denke und schon fangen die Probleme an. Warum muß ich das Bier holen? Warum krieg ich immer 5 Pfund weniger? Und dann denk ich noch ein wenig und Schluß. Spreche mit mir selbst: „Wir machen es so wie jeden Tag.“
Hier gibt’s keine Gewerkschaft, bei der ich mich beschweren könnte. Vielmehr würde ich mich ohne Thomas gar nicht trauen zu spielen. Wahrscheinlich spränge für ihn, wenn er allein spielen würde, sogar mehr raus. So macht es mir nichts aus, daß er den Löwenanteil einsteckt. Er sagt, er hat Frau und Kind zu ernähren, etwas weiter im Norden, in Yorkshire. Im Winter ist er bei ihnen, aber für den Sommer gibt’s Aufregenderes.
Aufregenderes…die Sandwich Boys spielen, bis das Geld für einen weiteren Tag eingefahren ist. Manchmal gehen die beiden, ihre Popularität mißachtend, anschließend in einen Blues-Pub in Soho, um Frauen aufzureißen. Ich sollte besser bei der Wahrheit bleiben. Es fehlt nicht an Willenskraft, aber komischerweise wollen Frauen immer irgendwelche Gründe hören, ich meine damit, daß sie hören wollen, was einem ganz besonders an ihnen gefällt, das Kleid, die Frisur, am besten einfach alles, bloß, damit sie sich auf ein kleines Abenteuer einlassen. Thomas und ich widersprechen uns ständig, und so ganz ohne Formalitäten finden‘ s die Mädchen einfach unanständig.
Mir fällt nur eine Ausnahme ein: Francesca. Francesca war wirklich highclass, und wir haben sie dermaßen abgefüllt, daß sie, wie sagte „Dinge tun könnte, die sie normalerweise nicht tun würde.“ Und ich Schwachkopf muß mich in sie verlieben, den Beschützer spielen, damit sie verspricht, daß wir uns wiedersehen, und natürlich denkt sie nicht daran, sich noch einmal Thomas‘ Verführungskünsten auszusetzen. „Wenn du das noch einmal machst, kannst du dir einen neuen Partner suchen“, fluchte Thomas und sah dabei so verdammt süß aus. „Stell dich niemals gegen deinen Partner wegen eines chicks!“
Er sagte wirklich: „Wegen eines Chicks!“ Es ist schon lustig, wenn man mit Thomas durch Soho zieht. Jedes Haus, jeder Mensch findet seine Nische in diesem Mikrokosmos. „Man kann eben nur eines sein.“, sagt Thomas und meint damit: gut oder böse, oben oder unten, ein Profi oder eine Plage, Blur oder Oasis. Niemand von diesen Gestalten, ob Hure, Dealer, Bettler, busker, würde zugeben, jemals auch nur eine Sekunde lang die Sonne gesehen zu haben. Ein Konstrukt wie es auch die Sandwich-Boys sind, so lautet die einhellige Meinung. Letzten Freitag jedoch bekam dieses Weltbild Risse. Fein rausgeputzt in ’nem goldenen Fummel, trippelte ein unbekanntes Etwas mit schulterlangem, blondem Haar die fensterlose Gasse hoch und runter und versuchte Plastik-Dildos an die Passanten zu verkaufen. Plötzlich blieb das Ding stehen und sagte: „Hallihallo, ich bin die 7. Sonne und wer seid ihr?“ „Ähh, wir sind die Sandwich- Boys, Musiker.“ – „Aah, schön, schön, aber das ist nicht ganz mein Fall..“
Thomas, der mir des öfteren erzählt, was für ein toller Hecht er sei und wie solche Nummern in London laufen, kommt sich schon ein wenig aus der Mode vor. Er hat seit drei Wochen kein Mädchen mehr gehabt. Wir reden in diesem Zusammenhang häufig über das Wunder der Penetration sowie über die geometrischen Möglichkeiten, die sich aus dem Vorhandensein dreier Löcher ergeben. Gestern stritten wir uns deswegen. „Wenn wir die da vorne abschleppen, nehme ich den Arsch.“ So fing das an. “ Du läßt mir keine Wahl ?“ fragte ich irritiert, immerhin waren wir Partner. Thomas antwortete entschlossen: „Nicht in diesem Punkt.“ „Aber was ist mit der Scheiße ?“ äußerte ich meine moralischen Bedenken. „Rat doch mal, Mister Super- Ästhet, da nimmst du Wasser und ein Stück Seife und dann, rate noch mal, wäscht du es ab.“ Tja, so macht man das wohl in London. Rein, raus, Nord, Süd, einmal die Circle Line, die so holpert, daß man ständig aus dem Takt gerät. Dann von vorne. Und um Himmels Willen nicht zurückbleiben! Bloß nicht getrennt werden!
Für gewöhnlich nehme ich, wenn alles vorbei ist, die letzte Bahn der Piccadilly Line kurz nach Mitternacht, raus nach Acton im Westen Londons, wo ich auf einem Zeltplatz übernachte. Die Station vor Acton heißt „White City“, ein hell erleuchteter, verglaster Bahnsteig. Die Türen öffnen sich und die Frau stakst davon mit ihrer Einkaufstasche. Ich schaue ihr noch ein wenig nach. Sie nimmt den Ausgang rechts. Ein paar Laternen und Reihenhäuser hinter gestutzten Hecken. Es sieht aus wie eine Mittelklassegegend, steril wie…nein, dafür gibt es keinen Vergleich. Glaube ich meinem Partner, wohnen in „White City“ ganz normale Rassisten. Mein Partner arbeitet immerhin seit 10 Jahren in London, er sollte das wissen. Und er weiß es auch und hat kein Problem damit. Nur daß wir morgen wie jeden Tag ein bißchen Geld machen müssen, und er sich nichts zur Seite geschafft hat, das ist ein echtes Problem. Nicht mal für einen Verstärker reicht es.